Es gab einmal einen abgeschiedenen Ort im Raum der Zeit, wo alle Lebewesen in seltsamer Art getrennt voneinander lebten, gespalten von sich selbst und ihrer Quelle. Jeder war von seinen eigenen dunklen Schatten umlagert, die es fast unmöglich machten, das Innere anderer Lebewesen zu sehen, zu hören oder wahr zu nehmen. Niemand wusste, warum es überhaupt so dunkel geworden war.
Niflheim - der Ort des Vergessens
Tief verborgen im Reich des ewigen Nebels, dort, wo die Seelen so kalt sind wie das Eis und dunkle Schatten mit dem Tod zu flüstern scheinen, herrschte einst der finstere und sagenumwobene Fürst von Niflheim. Der mächtige Herrscher regierte eisern, jedoch nicht mit Waffen aus Stahl, sondern mit undurchschaubarer Angst. Seine Macht war keine physische, sondern eine, die perfide eingenistet in den Köpfen der Menschen wurzelte – die Macht der Selbsttäuschung.
Der Einfältige, der eines Tages kam
Jahrhundertelang hatten sich die Bewohner dem Willen Niflheims gebeugt. Keiner wagte es, an seiner Macht zu zweifeln. Jeder versuchte Widerstand schien aussichtslos. Bis eines Tages ein Fremder kam. Kein Held in glänzender Rüstung, kein weiser Zauberer – sondern ein einfach gestrickter Wanderer mit einem ehrlichen Lächeln auf den Lippen, das an diesem finsteren Ort fast wie deplatziert wirkte. Seine Anwesenheit und seine eigenartige fast einfältige Weise, die Welt gedankenlos zu betrachten, verbreitete in der ganzen Gegend merkwürdige und seltsam verloren gedachte Schwingungen, die das dort unsichtbare Reich der Erinnerungen in leichte, noch kaum spürbare Vibrationen versetzte.
Er hörte die Geschichten über den dunklen Fürsten, der in Finsternis das Land beherrschte und über die schrecklichen Kreaturen, die seinen Palast bewachten. Er hörte die Erzählung über das versteckte gläserne Schwert, das Niflheim gestohlen hatte. Und doch zuckte er nur mit den Schultern und sagte: „Hört sich irgendwie komisch an.“ Aber die Menschen die ihm die Geschichten erzählten, begann er zu mögen und ihr Problem sah er nicht im Geringsten als Schwierigkeit an. So machte er sich auf den Weg, ihrem Problem zu begegnen. Er war fest entschlossen, es zu lösen. Niemand konnte ihn davon abbringen.
Der Pfad durch die Finsternis
Das Schloss des dunklen Fürsten thronte auf einem einsamen, schroffen Felsen, der aus der Dunkelheit emporragte. Nur eine hölzerne Zugbrücke führte dorthin – ein schmaler Steg über einem endlosen Abgrund. Und der Weg zum Palast war gespickt mit Gefahren, die jeden Helden in Furcht versetzt hätten.
Zuerst kamen die Häscher des Fürsten – dunkle Reiter auf grünen Flugdrachen, ihre Feuerharpunen blitzten auf. Sie umkreisten den Wandersmann, drohten ihn zu versengen. Doch der Fremde sah nur ungläubig nach oben und blinzelte verwundert.
„Drachen und diese komischen Typen gibt’s doch gar nicht“, murmelte er.
Und plötzlich, in diesem Augenblick – lösten sie sich auf, wie Rauch im Wind.
Weiter ging er bergauf. Sein Weg führte ihn vorbei an den rötlichen Trauerfelsen von Gol und über die eiserne Hängebrücke von Gatha. Von dort musste er die mystischen Eisfelder der Farsäer überqueren, von denen niemand wusste, was sie in sich verbergen - bis eine gewaltige Gletscherspalte seinen Weg versperrte. Aus den Tiefen des Eises schlugen hohe Flammen empor, als wolle der Hades selbst ihn verschlingen. Doch der Fremde schüttelte nur den Kopf.
„Feuer aus dem Eis? Das ergibt doch gar keinen Sinn.“
Und schwupp, schon war das Feuer verschwunden.
Der Berghang vor dem Palast Niflheims war übersät mit riesigen Dornenkugeln aus härtestem Trugstahl, der in den Höhlen von Lug unter schwersten Bedingungen von Sklaven gewonnen wird. In ihnen saßen kleine haarige Trolle, die sie zu steuern schienen. Sie rollten donnernd herab und auf der anderen Seite wieder hinauf um anschließend von dort, alles unter sich beerdigend, zurück zu poltern - bereit, alles und ihn zu zermalmen. Doch der Fremde steckte die Hände in die Taschen und sagte:
„Tonnenschwere Kugeln mit langen Dornen, gelenkt von haarigen Trollen? Das ist ausgeschlossen.“
Und sofort, mit einem leisen Knirschen, zerfielen sie zu Staub.
Schließlich stand er vor der schweren, hölzernen Zugbrücke, die in den dunklen Palast führte. Die Luft war schwer, erfüllt von einer unsichtbaren Präsenz, die andere in den Wahnsinn getrieben hätte. Doch den Fremden beeindruckte nichts, er summte nur ein Lied und marschierte geradewegs ins Herz der Finsternis hinein.
Der Fall des dunklen Fürsten
Der Gang der Trophäen war geschmückt mit Gemälden auf welchen die zahlreichen Siege der Illusionen Niflheims über die unterdrückten Menschen zu sehen waren. Ihre Absurdität in den Augen des Wanderers machten ihn noch entschlossener darin, Niflheim nun persönlich zu begegnen. Es roch nach Schwefel. Der dunkle Herrscher saß auf seinem gewaltigen Thron, auf seinem Haupt trug er die schwarzen Krone – dem Symbol der Andtilfaren als Zeichen seiner illuminaten Macht. Seine Augen loderten wie zwei schwarze Sonnen und seine Stimme hörte sich an, wie das Echo aller Albträume der Welt.
„Wer bist du, dass du es wagst, mich herauszufordern?“ dröhnte er.
Der Fremde kratzte sich am Kopf. „Du siehst gar nicht so angsteinflößend aus, wie die Menschen mir erzählt haben“, meinte er. „Eigentlich siehst du aus wie ein ganz normaler kleiner Lausebub mit viel zu großer Krone, kaputten Socken und Mundgeruch.“
Und dann lachte er so laut, dass es im Thronsaal nur so hallte.
In diesem Moment begann der Fürst von Niflheim zu zittern. Denn seine Macht beruhte auf Angst. Auf dem Glauben der Menschen, dass er unbesiegbar war. Seine Herrschaft ging von der Krone aus, mit welcher das schlafende Volk ihn in Trance gekrönt hatte. Doch dieser fremde Mistkerl war hellwach und glaubte nicht an ihn. Der Fürst hatte keine Macht über ihn.
So ging der Fremde einfach intuitiv und voller Selbstvertrauen auf ihn zu, stieg die zwei Stufen zum Thron hinauf, stellte sich kurz auf die Zehenspitzen und nahm Niflheim schnurstracks die schwarze Krone vom Kopf. Es war ganz leicht. Dabei hielt er sich wegen dem üblen Mundgeruch des Herrschers sogar mit der anderen Hand die Nase zu.
Mit einem letzten, entsetzten Schrei zerbröselte der Fürst zu Staub.
Das Wiedererwachen von Niflheim, dem Reich, welches früher Sonnaartland hieß
Doch es war noch nicht vorbei. Die Vollendung der Verwandlung musste sichtbar werden. Unter dem Thron lag verborgen das gläserne Schwert von Sonnaart, dem einstigen guten König des Landes – die wahre Quelle der Erlösung. Der finstere Fürst hatte es gestohlen und an sich genommen. Behutsam hob der Fremde es auf. Es war leicht wie Luft, klar wie Wasser.
Mit festen Schritten bestieg er die höchste Spitze des dunklen Berges hinter dem Palast, wo eine uralte steinerne Öffnung wartete. Dort steckte er das Schwert hinein – und plötzlich begann es zu leuchten. So wurde aus jener Waffe, die gegen das Volk gerichtet war, die sichtbare Kraftquelle der Menschen. Ein Licht, das heller war als tausend Sonnen, durchbrach die Finsternis in allen Sphären.
Der Nebel verschwand. Die Schatten vergingen.
Und die Menschen von Niflheim, das fortan wieder Sonnaartland heißen sollte, blickten zum ersten Mal seit Jahrhunderten in eine Welt ohne Angst.
Der Fremde aber, der nichts weiter getan hatte, als nicht an diese Lügen zu glauben, lächelte zufrieden. „War doch klar, dass das klappt, oder?“, murmelte er, schüttelte ihnen die Hand, umarmte sie und zog weiter.
Denn er musste noch in andere Länder reisen, da er wusste: Die wahre Macht liegt nicht in der Lüge und dem Glauben an sie – sondern darin, mit der bedingungslosen Liebe - zu sich selbst und allen anderen - die Illusion der Angst zu durchschauen und sie in das aufzulösen, was sie wirklich ist: Das Nichts.
Das Volk von Sonnaartland schaute dem Fremden noch lange nach. Aber sie wurden gewahr, dass etwas von ihm auf tiefe innewohnende Weise bei jedem von ihnen zurück blieb. Der Tag war angebrochen. Und niemand sah die Sonne jemals wieder über ihrem Land untergehen.

Das Ende des Fürsten von Niflheim
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