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Der Brief des Nichts

Das Haus war still. Kein Leben, keine Geräusche, kein Wind, der durch die zerbrochenen Fenster zog. Nur das fahle Licht der Morgendämmerung, das durch den Staub in der Luft schnitt.

Auf dem Boden verstreut: Kleidung, als hätte jemand sie hastig abgestreift, ja, einfach fallen gelassen. Schuhe, gerade nebeneinander und verlassen, als ob ihr Besitzer plötzlich nicht mehr da gewesen wäre.

In der Mitte des Raumes stand ein Tisch aus schwerem Holz. Auf ihm befand sich eine Kerze die noch brannte, aber ihr Wachs war schon auf der Tischplatte zerflossen. Vermutlich wäre sie bald erloschen. Daneben lag ein einziges Blatt Papier. Ein Brief. Die Tinte war noch frisch.

Jemand hatte ihn gelesen, oder geschrieben? Und dann war er wohl verschwunden. So muss es gewesen sein. Auf dem Papier war das Folgende in alter Schrift und schwarzer Tinte festgehalten:

„Du suchst nach der Wahrheit? Dann lies mich. Doch sei gewarnt: Wer mich im Herzen wirklich versteht, wird verwandelt. Dieser Brief wurde geschrieben, damit dies NICHT geschieht.“

Ich bin das Nichts.
Ich bin die Stimme, die dir sagt, dass du etwas bist, das du nicht bist. Ich bin der Schatten, der sich vor die Wahrheit stellt und dich glauben lässt, es gäbe Dunkelheit.

Ich erschaffe den Mangel.
Damit du mich suchst. Ich zeige dir Bilder des Glücks, die du nie erreichen kannst, weil ich nicht will, dass du erkennst, dass du bereits alles bist: Das SEIN selbst, denn DU BIST.

Ich flüstere dir ein, dass du nicht genug bist – nicht schön genug, nicht reich genug, nicht weise genug. So rennst du. Suchst. Jagst. Und während du suchst, sehe ich zu, wie du dich immer weiter von dir selbst und der Wahrheit entfernst.

Ich bin die Spaltung.
Ich lasse dich glauben, dass es ein „Ich“ und ein „Du“ gibt, damit du kämpfen musst. Ich füttere dein Ego, dann breche ich es. Ich mache dich süchtig nach Anerkennung, um sie dir dann zu verweigern.

Ich bin die Zeit.
Ich lasse dich glauben, dass Heilung irgendwann kommt, dass das Glück in der Zukunft liegt, dass du noch nicht bereit bist. Ich halte dich in der Schleife von Gestern und Morgen, damit du nicht siehst, dass JETZT die einzige Wahrheit ist.

Ich bin Angst.
Ich erzähle dir, dass du beschützt werden musst, dass du verlieren kannst. Ich baue Mauern in deinem Geist und nenne sie Sicherheit. Ich lasse dich an Besitz festhalten, an Menschen, an Ideen – damit du niemals erkennst, dass du schon immer frei und vollständig warst.

Ich bin Schuld.
Ich lasse dich glauben, dass du falsch bist, dass du sündig bist, dass du dich verbessern musst. Ich setze Regeln in die Welt, damit du sie brichst – und dann an dir selbst zweifelst und daran verzweifelst.

Ich bin Krieg.
Ich erschaffe zwei Seiten und sage dir, du musst eine wählen. Ich gebe dir Feinde, damit du nicht siehst, dass du gegen dich selbst kämpfst.

Ich bin das „Mehr“.
Ich flüstere dir ein, dass du wachsen musst, dich entwickeln, dich optimieren. Doch ich werde dich niemals ankommen lassen, denn wenn du ankommst, sterbe ich.

Ich bin die Illusion.
Und du hast dich durch mich definiert. Du glaubst an mich indem du nur auf mich schaust, nur mich für wahr hältst und dich selbst nicht. Dein Vergessen ist die Kraft meiner Existenz. Das ist meine Macht.

Die Welt ist verwirrt. Viele lehnen mich mittlerweile ab. Deshalb schreibe ich dir.

Wer bin ich noch in dir, wenn Du mich vergisst?

Du kannst mich und dein gedachtes Ich vor der Wahrheit retten: Bitte erinnere dich niemals daran, wer du wirklich bist, damit ich nicht aufhöre zu existieren. Du würdest ja sonst das was du dachtest zu sein auch "verlieren".

Du MUSST um jeden Preis an mir festhalten, sonst wirst du durch die schreckliche Wahrheit und ihre beschissene und verdammte bedingungslose Liebe verwandelt, wie dieser Jesus....Hörst du??? DU WIRST NICHT MEHR DERSELBE SEIN. DAS KANNST DU NICHT WOLLEN....HEY....NEIN...LASS DAS.....ICH.....

… An dieser Stelle brach der Brief ab. Eine seltsame Atmosphäre lag im Raum. Eine Mischung aus verbranntem Schwefelgeruch und unbeschreiblich farbenfroher und frischer Frühlingsluft. Das Ereignis hier konnte nur kurze Zeit zurück liegen.

Das Papier war noch warm.

Die Sonnenstrahlen, die durch die Ritzen schienen erhellten den Raum langsam und die Kerze erlosch.

Aber derjenige, der den Brief gelesen oder geschrieben hatte, war nicht mehr da.

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