Tief im Herzen eines alten, hochgewachsenen Mischwaldes lebte ein kleines Glühwürmchen namens Lumo. Von klein auf hatte Lumo ein besonderes Licht in sich – es funkelte und tanzte, wenn er sich freute, und sein kleiner Lichtschein wurde grösser, wenn er damit spielte. Das faszinierte Lumo und er liebte es, mit seinem Leuchten Zeit zu verbringen. Manchmal, wenn er glücklich und ziellos durch den Wald flog, musste er plötzlich wieder an sein Licht denken und sein Herz schlug dabei schneller. Dann setzte er sich irgendwo auf ein Blatt und begann spielerisch vor sich hin zu blinken. Manchmal beobachtete er sich selbst spiegelnd in einem stillen Teich und bestaunte sein Leuchten. Es gehörte zu ihm, fühlte sich aber gleichzeitig an, als hätte das Licht sein eigenes Leben.
Eines Nachts, als Lumo fröhlich durch die Luft wirbelte, hörte er ein strenges Räuspern. Er begegnete dem alten Käfer Grom, der mit seinen langen Fühlern wackelte. Grom war groß, galt als weise und viele im Wald hörten auf ihn. „Lumo“, brummte er, „man darf nicht mit seinem Licht spielen und es blinken lassen. Es ist nicht einfach zum Vergnügen da. Es hat eine heilige Bedeutung und du verschwendest es.“
Lumo hielt inne. „Aber… es ist mein Licht. Ich liebe es!“
„Licht muss kontrolliert werden“, sagte Grom streng. „Es gibt Regeln. Wer es falsch nutzt, könnte es verlieren.“
Zum ersten Mal in seinem Leben bekam Lumo Angst vor seinem eigenen Licht. Was, wenn er es wirklich falsch benutzte? Was, wenn es ihn verließ?
Von da an wurde er vorsichtig. Er leuchtete nur noch, wenn es unbedingt nötig war, und hielt sein Blinken zurück. Doch etwas fühlte sich falsch an. Er musste sich sehr anstrengen, seine Freude an seinem Licht wegzudrücken. Je mehr er das versuchte, desto öfter musste er an sein kleines Lichtlein denken. Immer wieder verbot er es sich selbst und versuchte, die Gedanken beiseite zu schieben. Statt seines Lichtscheins, vergrößerte sich in ihm nun die Angst, es durch einen Fehler verlieren zu können.
Doch das Verbotene entwickelte eine enorme Anziehungskraft. Auf magische Weise wurde das kleine Würmchen eines Tages von einer unbändigen Lust heimgesucht. Sie drängte ihn dazu, dem Wunsch, mit seinem Lichtlein frei spielen zu dürfen, nachzugeben. Es überkam ihn einfach. Er konnte nicht anders. Lumo flog eilig zu seinem Lieblingsblatt, setzte sich darauf und begann sofort zu blinken. Er musste immer schneller blinken. Es war wie ein Zwang. An,aus,an,aus... immer schneller...und plötzlich geschah etwas Unbekanntes: Sein Licht erhellte sich in einem einzigen Augenblick so stark, dass er es nicht mehr kontrollieren konnte. Alles war erleuchtet, wie bei einem hellen Blitz, bevor es um Lumo herum ganz finster wurde. Starke Angst überkam ihn. Hatte er sein Leuchten jetzt verloren, wie Grom gedroht hatte? Wer sollte ihm darauf antworten? Grom fragen? Niemals.
So vergingen einige Monde und viele dunkle Stunden flossen ins Land. Auch dass er manchmal unwillkürlich aufflackerte, erhellte sein Gemüt nicht mehr. Egal, was er nun tat, er war nie mehr frei darin und er war nicht mehr derselbe. Während er sich und sein Licht immer stärker verurteilte, schien der ganze Wald dunkler zu werden.
Eines Nachts, als Lumo ganz leise und traurig auf einem Ast saß, kam die alte Eule Mira zu ihm herüber geflogen. Sie setzte sich neben ihn auf das Gehölz, sortierte ihr Gefieder und blickte ihn mitleidsvoll an.
„Warum leuchtest du nicht mehr, kleiner Lumo?“ fragte sie sanft.
Lumo seufzte. „Ich habe gelernt, dass ich mein Licht nicht einfach so nutzen darf. Dass es Regeln gibt. Ich könnte etwas falsch machen.“
Mira lachte leise. „Falsch? Wer hat das entschieden?“
„Grom… Er sagt, Licht ist nur für bestimmte Dinge da. Und dass es verloren gehen kann, wenn man es missbraucht.“
Die Eule neigte den Kopf. „Und du glaubst ihm das?“
Lumo überlegte. „Ich… weiß nicht mehr. Früher habe ich einfach geleuchtet. Jetzt denke ich die ganze Zeit nach, ob es richtig oder falsch ist.“
„Ah, da ist sie“, sagte Mira.
„Wer?“ fragte Lumo verwirrt.
„Die Spaltung. Die Illusion von Trennung.“
Lumo blinzelte verständnislos.
„Als du noch nicht wusstest, dass es Regeln geben soll, hast du einfach geleuchtet. Es war keine Frage von richtig oder falsch. Dein Licht war einfach. So wie du einfach bist. Doch dann kam jemand und sagte dir, dass du dich entscheiden musst. Dass du es verlieren kannst. Und mit diesem Gedanken hast du es dir selbst genommen. Du hast dich von dir selbst getrennt, indem du ihm zugestimmt hast.“
„Aber Grom sagt, dass ich bestraft werde, wenn ich es falsch benutze.“
„Wer könnte dich bestrafen?“ fragte Mira ruhig. „Dein Licht gehört niemand anderem. Es kann nicht falsch oder richtig sein. Es kann auch nicht verloren gehen. Es ist immer da, weil du es selbst bist.“
Lumo spürte, wie etwas in ihm aufbrach. Er hatte so sehr versucht, das Richtige zu tun, dass er vergessen hatte, wer er war.
„Es gibt kein richtig und falsch?“ flüsterte er.
„Es gibt nur das, was ist“, antwortete Mira. „Und du bist.“
Lumo fühlte zum ersten Mal seit langer Zeit wieder Leben und Leichtigkeit. Er spürte wie sein Licht von selbst wieder zu flackern begann. Erst zaghaft, dann stärker. Er schloss die Augen und ließ es einfach geschehen.
Und dann lachte er – ein leises, befreites Lachen. So flog er davon.
„Ich bin“, rief er. Und zum ersten Mal verstand er wirklich, was das bedeutete.

Lumo’s Leuchten
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