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Der törichte Hofnarr

Es waren einmal zwei Hofnarren. Sie arbeiteten im selben Königreich, im selben Land, in der selben Stadt, im selben Palast, unter dem selben König. Tagein, tagaus trugen die beiden jene Geschichten, Witze und Theaterstücke vor, welche der König von ihnen hören und sehen wollte. 

Eines Tages, nachdem sie des Königs Mangel an Scheinwelt gerade befriedigt hatten, saßen die beiden auf der kleinen Mauer hinter dem Bühneneingang und beobachteten gemeinsam den Sonnenuntergang.

"Ich liebe diese Welt und bin mit Leib und Seele Hofnarr", sagte derjenige von den beiden, der mit einem schillernd bunten Kostüm bekleidet war. Sein Name war Erdwin. "Was glaubst du? Werden wir dem Tod auch Witze erzählen?" Fragte er seinen Hofnarrgenossen Zacharias, der ganz in weiss gekleidet war. Im Arabischen bedeutet sein Name: "Die Erinnerung". Dieser begann seine Rede, nachdem er einen Moment lang inne hielt und nachgedacht hatte:

"Weisst du Erdwin, der Tod ist nur eine Brücke über den Nebelfluss. Wovor sich die Menschen fürchten, ist der Nebel, der nur deshalb existiert, weil sie dem Weg nicht vertrauen. Es ist der Weg in das zeitlose Königreich, in welchem jeder der König ist. Alle zusammen verkörpern gemeinsam den dort herrschenden König. Es ist der König der bedingungslosen Liebe. Er braucht kein Gesetz, keine Staatsgewalt und keine Untertanen, um sich erhaben und mächtig zu fühlen. Auch keine Hofnarren, die ihn belustigen und ihn von seinen Ängsten einen Moment lang befreien. Er ist vollkommen und in seinen Königen ist er selbst die Liebe und Güte, die Kraft und Macht, die Freude und Gelassenheit. Ich bin und komme von dort und gehe dorthin zurück. Alle meine Gefühle habe ich deshalb schon heute vom Sichtbaren - und von meinem Job hier als Hofnarr - gelöst und mit dem Unsichtbaren jenseits der Brücke verknüpft - mit der Liebe, Freude, Güte, Geduld, Ruhe und Kraft meiner Existenz als König der Welt hinter dem Nebelfluss. Das erlaubt mir, trotz dass ich dem hier herrschenden König noch ein Gaukler bin, vollkommen frei zu sein. Denn meine Gefühle sind nicht mehr mit ihm und seinem Reich verknüpft, sondern mit meiner Identität hinter dem Nebel. Daher, wenn ich einst über diese Brücke gehe und das Unsichtbare sichtbar wird, werde ich wieder vollständig und mit mir selbst sichtbar vereint sein."

"Das ist doch töricht. Oder es ist der Witz der Jahrtausende, eins von beiden...", sagte der bunte Hofnarr entgeistert. "Ich meine … du glaubst an etwas, was du nicht sehen kannst. Ist es nicht töricht, wenn man seine existentiellen Gefühle mit Dingen verknüpft hat, die man nicht sehen kann?"

Zacharias schwieg lächelnd und ließ die als Frage getarnten, verurteilenden Worte Erdwins in der vom Sonnenuntergang rot glühenden Atmosphäre verhallen.

Noch einige dutzende Monde lang gaukelten die beiden Hofnarren dem Herrscher des Diesseits zu seiner Belustigung gemeinsam ihren Klamauk vor. Bis zu jenem Tag, an welchem der Erste von ihnen über die Brücke ging. Es war Zacharias, der sich schon sein Leben lang auf diese Reise durch den Nebel vorbereitet und gefreut hatte. Als er auf der anderen Seite ankam, war er überwältigt von dem was er sah und in sich selbst zu empfinden fähig war. Er war gekleidet in einem Lichtkleid, das in neuen, strahlend bunten Farben erleuchtete, die er selbst noch nie gesehen hatte.

Es war sein eigener Körper der leuchtete. Er strahlte nach innen und aussen und war leicht wie eine Feder. Seine Freudensprünge darüber waren zuweilen so hoch, dass er das weite Land mit seinen sattgrünen Wiesen und Wäldern, tiefblauen Flüssen und Seen von oben, zwischen den Wolken hindurch, aus der Vogelperspektive sehen konnte. Alles war ganz einfach möglich. Es gab keine Begrenzungen mehr. Wo er lief oder flog, entstanden neue Dinge. Die Liebe strömte wie ein Fluss aus seinem Herz heraus und integrierte dabei alles, was er durch seine Bewegungen und seine Worte ins Leben rief. Es gab keine Lichtquelle. Eine Sonne oder Lampe, wie er sie kannte, gab es hier nicht. Er selber war das Licht. Und alles, was er in Existenz rief, leuchtete in seltsamer Weise aus sich selbst heraus.

Nachdem er sich ausgiebig mit einigen Tieren unterhalten hatte, ohne den Mund zu bewegen, bemerkte er, wie die Schichten der Sphären um ihn herum, transdimensional zu schwingen begannen. Etwas lag in der Luft. Ein Ereignis wurde angekündigt. Ein dumpfes Grollen nahm er wahr. Plötzlich tat sich vor ihm eine Öffnung auf - mitten in der Luft der Unendlichkeit. Er sah, wie von ferne, dass jemand im dichten Nebel ängstlich über die Brücke lief und im Nu - direkt vor ihm - aus einer länglichen, dunklen Wolke herausstieg, wie wenn sie eine automatische Schiebetüre wäre.

Es war Erdwin, der Hofnarr, mit dem einst bunten Kostüm. Die Wolke verschwand und da stand er. Gebeugt. Ohne jede Körperspannung. Er sah traurig aus. Sein Blick war leer und noch starr auf einen Punkt fixiert, der sich im Jenseits zu befinden schien, welches sich gerade hinter ihm geschlossen hatte. Sein Gewand strahlte jedoch nicht mehr kunterbunt. Es war absorierend grauschwarz, reflektierte überhaupt nichts und wirkte fahl, wie wenn man den Kerl durch einen Kamin gezogen hätte. Eine seltsame Finsternis umgab ihn, obwohl er sich in leuchtender Umgebung befand, die er selbst jedoch nicht wahrnahm.

Zacharias, der freudige Gaukler, näherte sich ihm, schaute ihn wohlwollend an und fragte ihn: "Warum bist du so traurig und wirkst so leer? Willst du mir keinen Witz erzählen?". Erdwin antwortete leise, kraftlos und deprimiert: "Ich bin nichts. Ich habe nichts. Alles was ich war, gibt es nicht mehr." Seinen sehnsüchtigen Blick noch immer leer auf den weit entfernten, nicht mehr existierenden Punkt gerichtet, fuhr er fort: "Alle meine Gefühle sind mit dem unsichtbaren Jenseits und mit meinem Dasein als Hofnarr verknüpft. Das einst Sichtbare wurde Unsichtbar. Ich existiere nicht."

"Wirklich?", entgegnete Zacharias.

"Das ist doch töricht. Oder es ist der Witz der Jahrtausende, eins von beiden...", sagte der strahlendbunt leuchtende Hofnarr begeistert. "Ich meine … du glaubst an etwas, was du nicht sehen kannst. Ist es nicht töricht, wenn man seine existentiellen Gefühle mit Dingen verknüpft hat, die man nicht sehen kann?"

Erdwin hörte regungslos die Worte von Zacharias - Im Arabischen bedeutet sein Name: "Die Erinnerung" - während sich jedoch in ihm etwas langsam zu regen begann … ganz weit drinnen in seinem Inneren, im Zentrum seiner Seele, am tiefsten Ort seines Herzens, am existenziellsten Punkt seiner Existenz, die er nicht für möglich hielt …


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